Guinea: Zur Abwechslung sind wieder Militärs an der Macht
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Die Nimba-Berge im äußersten Südosten des Landes, ökologisch wertvoll, reich an Eisen – um dessen Abbau seit vielen Jahren Streit herrscht[1]
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Günther Lanier, Ouagadougou 27.10.2021 (geschrieben am 1.10.2021 für International V-2021 und dort soeben erschienen)[2]
Nach Tschad und Mali war die Reihe an Guinea: In Conakry putschten Militärs und ergriffen die Macht. Der ehemalige französische Fremdenlegionär Mamady Doumbouya ist nun interimistisch Staatschef. Dass er Alpha Condé, der sich mit allen Mitteln an der Macht halten wollte, vom Thron gestoßen hat, hat weithin Jubel ausgelöst. Das Ausland aber protestiert und urgiert die Rückkehr zur Demokratie. Ob überstürzte Wahlen dem Land jedoch gut tun würden?
Guinea ist reich. Auf seinem fruchtbaren Land wächst so gut wie alles, von Reis über Erdäpfel und Hirse und Äpfel bis zu Birnen und Kaffee und Weintrauben und Mangos…. Unter der Erde ist es reich an Bodenschätzen: ein Drittel der weltweiten Bauxit-Vorkommen sind hier zu finden, es gibt Gold, Diamanten, Eisen (siehe das Foto der Nimba-Berge), Erdöl, Uran, Phosphate und Mangan... Und anders als seine nördlichen Nachbarn verfügt es über Wasser in Hülle und Fülle, die Niederschlagsmengen erreichen insbesondere in Küstennähe Rekordwerte, “Wasserspeicher“ Westafrikas wird Guinea genannt[3], denn hier entspringen unter anderem Gambia, Senegal und Niger[4].
Alles andere als reich sind hingegen die BewohnerInnen. Laut Weltbank belegte Guinea 2020 (neuere Werte liefert die Weltbank nicht) beim Pro-Kopf-BIP zu Kaufkraftparitäten den 25.-untersten Rang[5], magere drei Plätze vor Äthiopien und drei hinter dem erdbebengeprüften Haiti. Und im 2020er Index der Menschlichen Entwicklung, der ein etwas vollständigeres Bild von Armut bzw. Reichtum erlaubt, liegt Guinea gar am zwölftniedrigsten Platz, jetzt fünf Plätze hinter Äthiopien, drei hinter Kongo-Kinshasa, eine vor Jemen und zwei vor Eritrea.
Die Schätze dienen anderen
Hier wurde und wird ganz offenbar schlecht gewirtschaftet, beziehungsweise nicht in die Taschen der GuineerInnen. Der Anspruch, mit dem das Land 1958 vor allen anderen französischen Kolonien in Afrika seine Unabhängigkeit antrat, wurde inzwischen gründlich verraten.
Wenden wir uns also der Politik zu. Ich will dabei umgekehrt chronologisch vorgehen und in der Gegenwart beginnend die Vergangenheit durchstreifen – bis zum kolonialen Grundstein der das Land bis heute heimsuchenden Zerrüttung.
Mamadi Doumbouya, heute 41, verfügt reichlich über militärische Erfahrung. Seine Ausbildung absolvierte er vor allem in Frankreich, dazu noch im Senegal, in Gabun und Israel und er nahm an Operationen in Afghanistan, in der Côte d'Ivoire, Djibouti, der Zentralafrikanischen Republik, Israel, Zypern und Großbritannien teil. Er diente dann eine Zeit lang in der französischen Fremdenlegion bevor er 2012 nach Guinea zurückkehrte, wo Präsident Alpha Condé ihn 2018 zum Chef des Verbands der Spezialkräfte (Groupement des forces spéciales/GFS, eine auf Antiterrorismus fokussierte Eliteeinheit) ernannte. 2020 wurde er Oberstleutnant und Oberst.
Militärputsch Nr.3
Den Putsch veranstalteten Mamadi Doumbouya und Co am 5. September 2021. Sie nahmen Präsident Alpha Condé fest[6], suspendierten die Verfassung, lösten Regierung und wichtige Institutionen auf, ließen kurzfristig die Grenzen schließen und richteten als oberstes Organ im Land ein Nationales Komitee des Zusammenschlusses und der Entwicklung (Comité national du rassemblement et du développement/CNRD) ein. Die Bevölkerung reagiert begeistert. Die Kritik der neuen Herren des Landes – eine Frau habe ich unter ihnen bisher vergeblich gesucht – an den zuvor herrschenden Zuständen wird positiv aufgenommen, politische Gefangene werden freigelassen, der neue Staatschef nimmt an Veranstaltungen zur Erinnerung von 12 Jahre zuvor vom Heer begangenen Gräueln teil[7] – was Image und PR betrifft, machen die Putschisten alles richtig (auf Englisch hieße es unübersetzbar: they made all the right noises). Und drei Wochen später, am 27. September, wird eine Charta für die Übergangsperiode veröffentlicht, die Grundlegendes zu den Modalitäten definiert, die Länge der Transition zwar vorerst offenlässt – dazu müsste erst genauer definiert werden, was zu machen, was zu erreichen ist –, aber klar ausdrückt, dass niemand der während der Übergangszeit Mächtigen bei den diese Periode abschließenden Wahlen wird kandidieren dürfen.
Mit dem Inkrafttreten der Charta wurde Mamadi Doumbouya am 28. September pünktlich zum 63. Jahrestag der Unabhängigkeit des Landes offiziell für die Dauer der Transition zu dessen Staatschef[8].
Geschick ist den Putschisten nicht abzusprechen, die Worte, in die sie sich kleiden, werden als wahr und ehrlich empfunden. Taten haben sie noch zu wenige gesetzt, um beurteilt zu werden.
Die Leute in Conakry feiern die neuen Machthaber[9]
Eine kleine Unstimmigkeit den Putschistenchef betreffend ist mir aufgefallen: Als am 24. September eine Liste von circa hundert hochrangigen UnterstützerInnen des 3. Mandates von Alpha Condé veröffentlicht wurde (ist das der Beginn einer “Hexenjagd“?), seines Putsches qua Verfassungsänderung. Dabei wurde auch bekannt, dass Mamadi Doumbouya ursprünglich auf der Liste stand (er war ja auch Teil des Machtdispositifs des gestürzten Präsidenten), sein Name dann aber entfernt worden war. Hätte ja auch seinen Ruf beschädigt[10]. Vielleich denke ich zu puristisch – sich auf die andere Seite schlagen ist stets eine schwierige Angelegenheit – der Oberstleutnant und Chef des Verbands der Spezialkräfte (GFS) hätte wohl nie seinen Putsch machen können, wenn er seine Karten zu früh aufgedeckt hätte.
Und das Ausland…
Ganz anders als im Inneren waren die Reaktionen der internationalen Gemeinschaft fast einhellig negativ. Militärs, die sich an die Macht putschen, entsprechen im Allgemeinen nicht den als demokratisch anerkannten Regeln. So wurde die Mitgliedschaft Guineas in der Ecowas[11] und auch die in der Afrikanischen Union suspendiert, genauso war es Mali etwa einen Monat später ergangen[12] – nur der Tschad hatte diese Maßnahme im heurigen Frühjahr trotz des Putsches mit Mühe und Not vermeiden können, zweifellos aufgrund seiner großen strategischen Bedeutung als französischer Bündnispartner im Kampf gegen den Sahel-Terrorismus[13].
Interessanterweise fordert niemand die Rückkehr Contés auf den Präsidententhron, aber das Ausland urgiert eine schnellstmögliche “Rückkehr zu demokratischen Verhältnissen“, was das baldigstmögliche Abhalten von Wahlen bedeutet. Interessant ist dabei ja, dass sich Ecowas und Afrikanische Union zwar im Militärputsch-Verdammen auszeichnen, jedoch stets untätig zugeschaut haben, wenn Präsidenten Staatsstreiche qua Verfassungsänderung verübt haben – wie eben Alpha Condé in Guinea und Alassane Ouattara letztes Jahr in der Côte d’Ivoire[14].
“Afrika bemüht sich seit Langem um Vorbeugung gegen drohende Militärputsche und Regierungswechsel, die der Verfassung widersprechen, sowie der Instabilität, die diese auslösen. Die 2012 angenommene Afrikanische Charta für Demokratie, Wahlen und Regierungsführung sollte nationale, regionale und kontinentale Bemühungen hin zu einer Konsolidierung von Demokratie und einem Verhindern von Aufständen lenken.
Warum ist es der Afrikanischen Union (AU) und den regionalen Wirtschaftsgemeinschaften nicht gelungen, dieses Problem zu lösen und welche Lehren lassen sich aus den rezenten Staatsstreichen im Tschad, in Mali und in Guinea ziehen?“
Dieser Text[15] beschreibt eine Zoom-Veranstaltung, die das Institute for Security Studies am 12. Oktober veranstalten wird.
Doch wäre die Frage sinnvoller breiter zu stellen. Wieso garantiert die angebliche Volksherrschaft (= Demokratie) nicht ein Regieren der VolksvertreterInnen für das Volk? Wie kann es sein, dass ein Alpha Condé, ein Ibrahim Boubacar Keïta, ein Blaise Compaoré sich wiederholt wiederwählen lassen, obwohl – wie sich ex post herausstellt – “ihre Völker“ ganz offensichtlich nicht glücklich mit ihnen sind?[16]
Wie dem auch sei, ein erfolgreicher Putsch oder Volksaufstand leitet meist eine Übergangsphase ein. In Afrika mischt sich in der Regel schnell die Internationale Staatengemeinschaft ein und verlangt – genau wie es jetzt in Guinea – eine rasche “Rückkehr zu demokratischen Verhältnissen“. Das Problem dabei ist die Raschheit, verhindert diese doch grundlegende Eingriffe in das Funktionieren des staatlichen und auch sozio-ökonomischen Systems. In Burkina geschah nach dem Volksaufstand gegen Blaise Comparoé Ende 2014 in der einjährigen Transitionszeit viel mehr als in den Jahren davor oder in den Jahren danach. Hätte die Übergangszeit länger gedauert, wäre viel mehr möglich gewesen[17].
Damit sich nichts Wesentliches ändert
Freilich ist aber genau das die Intention des Drängens seitens der Internationalen Staatengemeinschaft: dass sich möglichst wenig ändert. Bestehenden “Interessen“ sollen möglichst keine Hindernisse in den Weg gelegt werden. Und die StaatschefInnen-Clubs, als die sich die Afrikanische Union und die Ecowas immer wieder erweisen, haben Angst vor Nachahmungen, die Ihresgleichen den Job an der Staatsspitze kosten könnten.
Kankan in Nordost-Guinea[18]
Doch kehren wie nach Guinea zurück und steigen wir den Fluss der Zeit hinauf.
Alpha Condé war Präsident von 2010 bis 2021. Mit 72 war der letztlich doch nicht ewige Oppositionelle an die Macht gekommen, schon bei seiner ersten Wahl war es zu ethnischer Polarisierung gekommen (Condé ein Malinké, sein wichtigster Gegner, Cellou Dalein Diallo, ein Peulh). Und er, der für seine Überzeugungen auch 28 Monate im Gefängnis verbracht hatte, erwies sich bald als um nichts weniger hart im Umgang mit Oppositionellen als frühere Präsidenten. Das Grundgesetz erlaubte ihm zwei Mandate. Doch er ließ mit einem überaus umstrittenen Referendum die Verfassung ändern. Wie er sich dann für eine dritte Amtszeit wählen ließ, das stürzte ihn letztlich ins Verderben.
Epidemien und andere Plagen
Was Guinea während der Amtszeit Condés mehr als alles Andere in die internationalen Schlagzeilen gebracht hat, war jedoch Ebola. Der Virus hat in Guinea vor Kurzem abermals zugeschlagen, er konnte aber recht schnell unter Kontrolle gebracht werden. Dazu kam jüngst noch ein Fall der Marburg-Krankheit, ausgelöst durch einen nahen Verwandten des Ebola-Virus. Es blieb bei diesem einen Fall. Eine Wiederholung der Katastrophe von Dezember 2013 bis Dezember 2015 mit ihren in Guinea über 2.500 Toten bei über 3.800 Fällen[19] ist somit ausgeblieben – der Gesundheitsapparat hatte seine Lektion offenbar gelernt und war dieses Mal vorbereitet[20].
Vielleicht sind solche Epidemien die wirklichen Prüfsteine des Landes. Dass Politik Ärger macht und dass der Wille zur Macht über Leichen gehen lässt, daran sind die BewohnerInnen des Landes seit jeher gewohnt.
Vor Alpha Condé war Sékouba Konaté 11 Monate lang interimistisch Staatschef, von 15.1. bis 21.12.2010. Dieser Brigadegeneral hatte als Nr.2 der Junta die Macht geerbt, als auf dessen Nr.1, Dadis Camara, ein beinahe tödliches Attentat verübt wurde. Nachdem Sékouba Konaté die Macht an seinen Nachfolger übergeben hatte, brach er nach Addis Abeba auf, wurde dort von der AU mit der Schaffung der Afrikanischen Bereitschaftstruppe beauftragt. Etwas Mysteriöses umgibt Konaté – ganz sicher hat er sich aber nicht an der Macht festgeklammert.
Das Gegenteil trifft auf seinen Vorgänger Moussa Dadis Camara zu, der ein gutes Jahr lang Staatschef war, vom 24. Dezember 2008 bis zum 15. Jänner 2010. Wenige Stunden nach dem Tod des Langzeit-Diktators Lansana Conté erklärt er, Chef des Nationalen Rates für Demokratie und Entwicklung, die Verfassung für außer Kraft gesetzt und zwei Tage später ernennt er sich selbst zum Staatschef. Der charismatische, in den Medien ungeheuer präsente Hauptmann, findet bald Geschmack an der Macht. Als es am 28.9.2009, dem 51. Jahrestag der Unabhängigkeit des Landes, zu Protesten gegen die Junta kommt, veranstaltet die Armee ein Massaker mit 109 Vergewaltigungen und 156 Toten. Ob Dadis Camara das brutale Vorgehen der Armee angeordnet hat, wie ErmittlerInnen der UNO meinen, oder ob andere “undisziplinierte“ Junta-Mitglieder und insbesondere Aboubacar Diakité es waren, wie er selbst behauptete, wird vielleicht nie geklärt werden. Der Staatschef wird am 3. Dezember von Aboubacar Diakité in Kopf und Hals geschossen – erliegt seinen Wunden aber nicht. Er wird in der Folge jedoch von Washington, Paris und Rabat[21] ins Exil abgedrängt. Seit Jänner 2010 lebt er in Ouagadougou.
Der erste Putsch
Lansana Conté war über 24 Jahre lang Staatschef, seit 5. April 1984 – nach dem Tod Sékou Tourés, des“Vaters der guineischen Unabhängigkeit“, am 26. März hatte er sich am Putsch des Militärkomitees zur nationalen Aufrichtung beteiligt und dieses kürt ihn zum Präsidenten. Von der Macht, für deren Erhalt er wenig Skrupel kannte, trennte ihn erst sein Tod am 22. Dezember 2008. Drei Mal – 1993, 1998 und 2003 – hatte er sich mit komfortablen Mehrheiten (wieder)wählen lassen. Seinem Land ging es nicht gut und gegen Ende seiner Herrschaft wuchsen die Widerstände, insbesondere auch seitens der Gewerkschaften. Conté ist schwer krank, will aber, so verkündet er, sein Mandat noch zu Ende bringen – für die Zeit ab 2010 suche er einen würdigen Nachfolger. Doch dazu sollte es nicht kommen.
Miriam Makeba und ihr Mann Kwame Ture lebten 1969 bis 1985 in Guinea[22]
Der Vater der guineischen Unabhängigkeit
Davor war die Zeit Sékou Tourés. Er hat Guinea in die Unabhängigkeit geführt und war von 1958 an 25 Jahre lang Präsident. Er war zunächst ein Idol des Panafrikanismus und des afrikanischen Freiheitskampfes, entwickelte sich in der Folge jedoch zum repressiven Autokraten, der auch über Leichen – und gar nicht so wenige – ging. Diesen Wandel hat zumindest teilweise seine (sicher fallweise berechtigte) Angst vor Umsturzversuchen ausgelöst.
Er starb 62-jährig in einer US-amerikanischen Klinik an Herzversagen – seine Evakuierung dorthin mit einem von Saudiarabien zur Verfügung gestellten Ambulanzflugzeug hatte sich um einen Tag verzögert: Nur der Präsident konnte bei außertourlichen Flügen die Landegenehmigung erteilen, er aber war so krank, dass die Kontaktversuche des Flughafens von Conakry misslangen.
Unsere Zeitreise im Eilzugtempo ist bei der Kolonialmacht Frankreich angekommen, deren unrühmlicher Rückzug aus Guinea den Grundstein für die langfristige Zerrüttung des Landes gelegt hat. Davor schnell aber noch ein kleiner Überblick: Von den 6 guineischen Präsidenten waren 4 Militärs. 3 der letzteren sind qua Putsch an die Macht gekommen und einer der beiden Zivilisten hat sich qua Verfassungsänderungsputsch an der Macht gehalten. Gut 25 Jahre unter der Führung Sékou Tourés und gut 10 Jahre unter Alpha Condé, das summiert sich fürs unabhängige Guinea auf 36 Jahre Zivilistenherrschaft. Bleiben 27 Jahre unter Militärkuratel. Die Preisfrage ist: Was davon hat dem Land und seinen BewohnerInnen besser getan?
Sekou Touré, zweiter von rechts, mit Habib Thiam (später senegalesischer Premierminister) und Valdiodio Ndiaye (damals senegalesischer Innenminister) [23]
Schlechter Verlierer Frankreich[24]
Vor dem Hintergrund des sich zuspitzenden Algerienkrieges (1954-62) stürzt in Paris im Mai 1957 die Regierung Mollet[25], auch der nachfolgende Maurice Bourgès-Maunoury kann sich nur kurz im Amt halten und Félix Gaillard wird im Mai 1958 abermals Opfer der Geschehnisse in und um Algerien[26]. Als dessen Nachfolger Pierre Pflimlin ankündigt, mit den Aufständischen der FLN verhandeln zu wollen, lehnen sich die Schwarzfüße und die algerischen Militärs auf, General Jacques Massu[27] putscht in Algier und fordert die Machtübernahme de Gaulles in Paris. Fallschirmjäger des algerischen Militärs “erobern“ in der Folge Korsika und dass diese Fallschirmjäger nicht auch in Paris landen[28], ist nur der Tatsache zu verdanken, dass das französische Parlament am 1. Juni 1958 de Gaulle mit der Bildung einer neuen Regierung und der Ausarbeitung einer neuen Verfassung betraut.
Als Regierungschef wird er – diese Bedingung hat er bei seiner Machtübernahme gestellt – mit Sondervollmachten ausgestattet, sechs Monate lang kann er per Dekret regieren. Was die Ausarbeitung der neuen Verfassung betrifft, hat ihm das Parlament einen Rahmen gesetzt[29], dieser ist jedoch ziemlich locker und das im Sommer 1958 ausgearbeitete französische Grundgesetz – das bis zum heutigen Tag gilt – trägt in hohem Ausmaß den Stempel de Gaulles.
Der französische Gouverneurspalast in Conakry im Jahr 1956[30]
Die ephemere Französische Gemeinschaft
Nachdem Parlament und Staatsrat[31] den Verfassungsentwurf mit geringen Änderungen abgesegnet haben, wird er am 28. September 1958 im gesamten Reich, pardon: in der gesamten französischen Union einem Referendum unterzogen. De Gaulle hat sich auf die Reise gemacht, um für seine neue Verfassung zu werben, nach den Stationen Antananarivo (Madagaskar), Brazzaville und Abidjan wird sein Empfang in Conakry, der Hauptstadt Guineas, nicht so triumphal sein, hört er den guineischen Gewerkschaftsführer und RDA-Politiker Ahmed Sékou Touré doch der Menschenmenge erklären: “Wir ziehen die Armut in Freiheit dem Reichtum in Sklaverei vor“[32]. De Gaulle schmollt – auf seiner nächsten Station Dakar (Senghor ist nicht anwesend) reagiert er gereizt, als er DemonstrantInnen mit “rebellischen“ Spruchbändern für ein “Nein“ erblickt: “Sie wollen die Unabhängigkeit? Sollen sie sie doch nehmen!“[33]
Tatsächlich: Opting Out ist eine reale Option. “Dem Volk“ wird die Frage gestellt, ob es bei der vom Pariser Verfassungsentwurf vorgeschlagenen Französischen Gemeinschaft unter den vorgesehenen Bedingungen mitmachen will oder nicht. Die früheren Kolonien, jetzt Überseeterritorien, stecken der Option den relevanten politischen oder geographischen Rahmen: Sagt eine Mehrheit “Nein“, so ist dieses Land frei. Nicht viele Parteien oder Prominente hatten für ein solches “Nein“ agitiert[34]. Außer freilich in Guinea.
Die neue Verfassung wird dann am 28. September 1958 mit vier Fünftel[35] der abgegebenen Stimmen angenommen, in den Überseeterritorien beträgt die Zustimmung meist jenseits der 90%. Am 4. Oktober 1958 unterschreibt Noch-Staatspräsident René Coty die neue Verfassung, per 5. Oktober tritt sie in Kraft und lanciert die Französische Republik Nummer 5, die bis heute besteht. Damit bekommt das Kolonialreich ein neues Namensschild – aus der “Union“ wird die “Gemeinschaft“. Und de Gaulle wird ihr erster – und was die Gemeinschaft betrifft auch einziger – Präsident[36].
Gexit – das Ausscheren Guineas
Nur eine frühere Kolonie ist nicht mehr dabei: Guinea. Das “Nein“ zu Frankreich erfolgte hier fast einstimmig, mit überwältigenden 95,2%[37]. Wie Haiti etwa 125 Jahre zuvor, als es die Französische Revolution beim Wort nahm, die Gleichheit aller und die Abschaffung der Sklaverei verwirklichte, wird nun Guinea für seinen Freiheitsdurst büßen müssen: Frankreich zieht Personal und Kapital ab so schnell es geht – um möglichst viel Schaden anzurichten und um den frischgeborenen[38] aufmüpfigen Staat zurechtzuweisen und möglichst zu destabilisieren. Conakrys Ansuchen um Assoziierung wird ignoriert. Die Welle an Solidarität – GuineerInnen im Ausland und auch zahlreiche AfrikanerInnen anderer Provenienz folgen Sékou Tourés Aufruf und kommen nach Guinea um beim Aufbau des Staates zu helfen – werden diesen initialen Schock nur teilweise kompensieren können.
Alle anderen sind brav und tun, was der große[39] Führer Frankreichs will. Aber dem war es, scheint’s, gar nicht so ernst mit der angepriesenen “Französischen Gemeinschaft“. Hinter dem Namen verbargen sich sehr wohl auch substantielle Neuerungen. Nur – bevor sie alle umgesetzt werden konnten, ja bevor alle neuen Organe gewählt werden konnten, gab es diese Französische Gemeinschaft schon wieder nicht mehr. Denn 1960 wurden alle in die Unabhängigkeit geschickt, der Reihe nach – eben jene Unabhängigkeit, die sie zwei Jahre zuvor noch, durchaus dem Pariser Wunsch entsprechend, mit überwältigenden Mehrheiten verweigert hatten. Zwangsbeglückung? Weiß Papa[40] de Gaulle besser als die Betroffenen, was gut für sie ist? Dass sie die Freiheit zwar nicht wollen, aber brauchen?
Nein, vielmehr haben viele GaullistInnen Angst, von den nun nicht mehr “Eingeborenen“ Genannten rein numerisch zur Minderheit degradiert zu werden, “überrannt“ zu werden, die Oberhoheit übers Daheim zu verlieren. Und die Kontrolle über die ehemaligen Kolonien und ein trotz allem privilegierter Zugang zu ihren wirtschaftlichen Ressourcen lassen sich auch anders bewahren. Dazu wird das als “Françafrique“ bekannte System[41], das de Gaulle insbesondere unter Mithilfe Jacques Foccarts einrichten wird, ebenso beitragen wie die erwähnte Koppelung der Währung der Ex-Kolonien an den französischen Franc und, last but not least, die diversen Verträge, die zwischen Frankreich und den nunmehr unabhängigen Staaten geschlossen werden.
Fouta Djallon, NW-Guinea [42]
Endnoten:
[1] Nimba Mountains (Ost-Guinea, nahe dem Dreiländereck mit Liberia und Côte d’Ivoire) 3. Juli 2013 Maarten van der Bent, https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Nimba_Mountains_(14418665938).jpg.
[2] Petra Radeschnig gilt – wie stets – mein herzlicher Dank fürs Lektorieren!
[3] Auf Französisch schöner: Westafrikas “château d’eau“, wörtlich “Wasserschloss“, eigentlich aber “Wasserturm“.
[4] Was den Senegal betrifft, so heißt sein Oberlauf bzw. der in Guinea entspringende wichtigere seiner beiden Quellflüsse Bafing. Senegal heißt er ab dem Zusammenfluss mit dem Barkoy, der im Schnitt nur halb so viel Wasser führt wie der Bafing.
[5] Daten herunterladbar unter https://data.worldbank.org/indicator/NY.GDP.PCAP.PP.CD.
[6] Ein Foto des von Militärs umringten, zerzausten Alpha Condé zirkulierte in sozialen (und auch anderen) Medien; später wurde der Gefangene unter der Menge Jubel durch Conakrys Straßen kutschiert: Entehrung, Schande.
[7] Siehe z.B. Sidy Yansane, Guinée: le chef de la junte présent à l'hommage aux victimes des massacres du 28-Septembre, RFI 29.0.2021 um 7:57, https://www.rfi.fr/fr/afrique/20210929-en-guin%C3%A9e-le-pr%C3%A9sident-de-la-transition-mamady-doumbouya-s-est-rendu-au-stade-du-28-septembre.
[8] Siehe z.B. Marième Soumaré, Guinée: ce que contient la charte de la transition dévoilée par Doumbouya, nouveau chef de l’État, Jeune Afrique 28.9.2021 um 13:20, aktualisiert am 29.9.2021 um 10:13, ttps://www.jeuneafrique.com/1240947/politique/guinee-ce-que-contient-la-charte-de-la-transition-devoilee-par-dombouya-nouveau-chef-de-letat/.
[9] Vom Fotografen “Szenen der Ausgelassenheit/Freude“ betitelt. Foto Aboubacarkhoraa 5.9.2021, zugeschnitten von GL, https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Sc%C3%A8ne_de_liesse_%C3%A0_Conakry_05.jpg.
[10] Sidy Yansané, Guinée: le FNDC publie la liste d'une centaine de responsables ayant soutenu le 3e mandat, RFI 25.9.2021 um 0:00, https://www.rfi.fr/fr/afrique/20210924-guin%C3%A9e-le-fndc-publie-la-liste-d-une-centaine-de-responsables-ayant-soutenu-le-3e-mandat.
[11] Die Wirtschaftsgemeinschaft westafrikanischer Staaten/Economic Community of West African States (ECOWAS) oder auf Französisch Communauté économique des États de l'Afrique de l'Ouest/CEDEAO.
[12] Siehe Günther Lanier, Nicht Bamako, nicht Paris – Kati ist wieder ’mal Malis Hauptstadt, Wien (International – Newsletter 53/2021) 27.5.2021, https://international.or.at/wp-content/uploads/2021/05/Mali-27.5.2021.pdf.
[13] Siehe Günther Lanier, Der Tschad, der Sahel, Barkhane – die Waisen Idriss Déby Itnos, International/Newsletter 44/2021 vom 21.4.2021, international.or.at/wp-content/uploads/2021/04/2021-04-21-der-Tschad-nach-Deby-Itno.pdf. Beim Tschad geht es nur um die AU-Mitgliedschaft, er war nie ECOWAS-Mitglied.
[14] Diese Frage nennt folgender Artikel die Achillesferse der Ecowas: Benjamin Maiangwa, Guinea coup highlights the weaknesses of West Africa’s regional body, The Conversation 11.9.2021, https://theconversation.com/guinea-coup-highlights-the-weaknesses-of-west-africas-regional-body-167650. Dort heißt es: “The regional body’s response to the Guinea crisis reflects its legitimacy deficit. The organisation was conspicuously mute when Condé effectively carried out “a coup” against the Guinean constitution to elongate his term in office. If ECOWAS is to be a champion for good governance, it should address the root causes of political instability and coups. Foremost are the illegitimate measures to extend the terms of incumbents and their abuse of power.“
[15] ISS, Vers un retour des coups d'État en Afrique?, https://issafrica.org/fr/activites/vers-un-retour-des-coups-detat-en-afrique?utm_source=BenchmarkEmail&utm_campaign=ISS_Weekly_FR&utm_medium=email. Übersetzung GL.
[16] Ich brauche mich mit Ländern außerhalb Afrikas nicht zu beschäftigen, aber freilich gälte es, dieselbe Frage auch in der Satten Welt zu stellen. Wie kann es sein, dass ein Kurz, ein Trump, ein Hitler gewählt werden (auch wenn freilich das Ausmaß der Schädlichkeit der drei Herren so unterschiedlich ist, dass es gewagt ist, sie nebeneinander zu nennen)?
[17] Zu Burkina siehe Günther Lanier, Land der Integren. Burkina Fasos Geschichte, Politik und seine ewig fremden Frauen, Linz (guernica Verlag) 2017. Bestellbar nicht bei Amazon, sondern nur beim Verlag: office@guernica-verlag.at bzw. +43-664-1540742.
[18] Foto 5. Juli 2013 Maarten van der Bent, https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Kankan_(14604696832).jpg.
[19] Ebola: fin de l’épidémie en Guinée, TV5 Monde 29.12.2015, https://information.tv5monde.com/afrique/ebola-fin-de-l-epidemie-en-guinee-77478.
[20] Siehe z.B. Michelle J. Groome, Janusz Paweska, Marburg en Guinée : la valeur des leçons tirées de la gestion d'autres épidémies de fièvre hémorragique, The Conversation 28.9.2021, https://theconversation.com/marburg-en-guinee-la-valeur-des-lecons-tirees-de-la-gestion-dautres-epidemies-de-fievre-hemorragique-168513.
[21] Er ist für die Behandlung nach Marokko ausgeflogen worden.
[22] Miriam Makeba und Kwame Ture (auch: Touré; ursprünglich Stokely Carmichael) lebten in Dalaba im Fouta-Djalon. Dieses Foto zeigt die beiden bei Tisch in Algier 1969, FotografIn unbekannt, leicht überarbeitet GL, https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Miriam_Makeba,_Kwame_Ture,_Algiers,_1969.png.
[23] Foto 1960 von Karim Ndiaye, Sohn von Valdiodio Ndiaye, https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Visite_de_Sekou_Tour%C3%A9.jpg.
[24] Es folgt eine gekürzte Version meines ursprünglich am 17.10.2017 auf der Webseite von Radio Afrika TV veröffentlichten Artikels “ Auf dem Rücken der Befreiten – der schlechte Verlierer Frankreich“ = Kapitel 67 von Günther Lanier, Afrika. Exkursionen an den Rändern des Weltsystems, Linz (guernica Verlag) 2019. Bestellbar nicht bei Amazon, sondern nur beim Verlag: office@guernica-verlag.at bzw. +43-664-1540742.
[25] Die explodierenden Militärausgaben erhöhen die Verschuldung Frankreichs und schwächen seine Währung.
[26] Das Bombardieren eines tunesischen Grenzortes als Vergeltung für Militäraktionen der Aufständischen verursacht scharfe internationale Proteste und Frankreich kann sich vor dem UNO-Sicherheitsrat nur mit Mühe gegen die daraus resultierenden tunesischen Anschuldigungen verteidigen.
[27] Seit Januar 1957 militärischer Oberbefehlshaber der Region Algier hatte er sich durch besondere Brutalität, insbes. in der Schlacht von Algier, ausgezeichnet. Den sehr gerne auf Folter zurückgreifenden, in der “Französischen Doktrin“ zusammengefassten Methoden der Bekämpfung von Rebellen und Oppositionellen verdankt Massu viel.
[28] Massus Karriere schadet all das nicht – ganz im Gegenteil: er erhält im Juli 1958 einen zweiten Generalsstern, wird im Dezember 1958 Oberkommandierender der französischen Truppen von ganz Algerien. Nach einem dritten (1963) und vierten (1966) Stern wird er Oberkommandierender der französischen Truppen in Deutschland – während der StudentInnen-Unruhen vom Mai 1968 fliegt de Gaulle schnell zu Massu in Baden-Baden, um sich der Loyalität des Heeres gegen die Pariser Aufständischen zu versichern, bevor er sich am Tag darauf an sein Volk wendet und Neuwahlen ankündigt.
[29] Verfassungsgesetz vom 3. Juni 1958.
[30] Foto Buonasera, https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Conakry_-_franz%C3%B6sischer_Gouverneurspalast_-_1956.jpg.
[31] “Conseil d’Etat“, in der 4. Republik eine Art Berufungsgericht in Verwaltungsfragen.
[32] In Ton und Schrift auf www.ina.fr/audio/PHZ09010864: “Nous préférons la pauvreté dans la liberté à la richesse dans l'esclavage“.
[33] Dieses “Ils veulent l’indépendance. Qu’ils la prennent!“ vom 4. September 1958 (in Ton und Schrift auf http://fresques.ina.fr/de-gaulle/fiche-media/Gaulle00329/discours-a-dakar.html) zieht sich Mantra-artig durch Ken Bugul, Aller et Retour, Dakar (Ed. et Diffusion Athéna) 2013 – Senegal hat seine Unabhängigkeit nie “genommen“.
[34] Siehe z.B. Joseph Ki-Zerbo, Histoire de l’Afrique noire. D’Hier à Demain, Paris (Hatier) 1978, p.513.
[35] “Ja“: 82,6% der gültigen Stimmen. Wahlbeteiligung: 80,6% (wie immer in Frankreich und französischen Ex-Kolonien bezieht sich die Zahl nicht auf die Wahlberechtigten sondern auf die Gesamtzahl derer, die sich für die Wahl registrieren haben lassen. Eigene Berechnungen nach Journal officiel de la République Française vom 5. Oktober 1958, https://www.legifrance.gouv.fr/jo_pdf.do?numJO=0&dateJO=19581005&numTexte=&pageDebut=09177&pageFin=ff.